Von Hans-Georg Dachner und Herbert Martin Vater
Im Frühjahr des Jahres 1891 erfolgte der erste durch Otto Lilienthal gesteuerte Flug eines Gleiters von der Böschungskante einer Sandgrube. Die Grube lag am Nord-West-Hang vom „Spitzer Berg“, im Volksmund „Spitzberg“ genannt, auf der Gemarkung von Krielow. Leider lässt sich der Zeitpunkt dieses historischen Ereignisses nicht weiter eingrenzen, denn Otto Lilienthal hat dazu selbst keine präziseren Angaben hinterlassen. Zwei Fotoserien von Prof. Dr. Carl Kassner dokumentieren die Flüge.
Zweifellos spielten die verwandtschaftlichen Beziehungen eine entscheidende Rolle dafür, dass sich Otto Lilienthal im Raum Krielow / Derwitz nach einem geeigneten Übungsgelände umsah.
Der Onkel seiner Schwägerin, der Frau seines Bruders Gustav, Carl Otto Bournot war zu jener Zeit Pfarrer in der Gemeinde Derwitz zwischen Werder und Groß Kreutz. Bei jeder Besuchsreise nach Derwitz über Groß Kreutz und Krielow, sah Lilienthal von der Eisenbahn aus den Spitzberg und eine Sandgrube. Die Abbruchkannten der Grube erschienen Lilienthal für seine Flugübungen geeignet zu sein.
Diese Sandgrube war beim Bau der Eisenbahnstrecke Berlin-Magdeburg entstanden, die 1846 eröffnet wurde. Die Form der Sandgrube und der Spitzberg mit 64,1 m Höhe ist im Meßtischblatt von 1882 zu sehen.
Es ist belegt das sich Otto Lilienthal beim Bahnwärter der Bude 55, August Thiele, nach den Eigentumsverhältnissen dieser Grube, die komplett auf der Gemarkung Krielow liegt, erkundigte. Die Auskunft, dass der Bereich der Sandgrube einschließlich Spitzberg der Eisenbahn gehöre, beruhigte ihn offensichtlich sehr. Zunächst dachte er auch daran, seinen Flugapparat im Bereich der Bahnwärterbude 55 unterzustellen. Die Möglichkeit der Unterbringung des Apparates in der Scheune des Derwitzer Müllers Herrmann Schwach war aber wesentlich günstiger.
Historische Fotoaufnahmen von 1891 in zwei verschiedenen Zeiträumen, von Prof. Dr. Carl Kassner vom Meteorologischen Institut Potsdam zeigen, das alle Absprünge und Gleitfüge an den Abbruchkanten in die Sandgrube erfolgten. Auf allen Fotos sieht man den nach einem Sturmschaden um ca. 2 m Spannweite eingekürzten Derwitz-Apparat. Von der ursprünglichen Spannweite des Gleiters mit 7 1/2 m existieren keine Fotos nur eine Beschreibung Lilienthal’s. Der Derwitzer Gleiter war nicht zusammenfaltbar wie spätere Weiterentwicklungen. Seine Masse betrug etwa 18 kg und die beiden Flügel konnten in der Mitte, im sogenannten Gestellkreuz, getrennt werden. Der Transport im zusammengebauten Zustand war nicht einfach, was sicher ab 1893 zu den zusammenfaltbaren Segelapparaten führte, die als Vorbild für das Lilienthal-Denkmal an der Gemarkungsgrenze Derwitz-Krielow diente.
Weiterer Sand wurde in der Zeit von 1904 – 1906 für den Eisenbahndamm in Potsdam-Charlottenhof und -Wildpark abgetragen und erweiterte die ehemalige Lilienthal‘sche Übungsgrube in südlicher und östlicher Richtung. Dieser Erweiterung fiel auch der unbewaldete kegelförmige Spitzberg (64,1 Meter) zum Opfer.
In den 1930er Jahren wurde für den Autobahnbau die auf
Krielower Terrain liegenden Sandgruben nochmals in östliche und vor allem
südliche Richtung bis tief in die Derwitzer Gemarkung erweitert. Somit entstand
letztendlich ein großer Sandgrubenkomplex der es so schwer macht, sich die Lage
der Lilienthal‘sche Übungsgrube heute noch vorzustellen. Von der 1891 für Otto
Lilienthal nutzbaren Sandgrube ist nur die westlichste Böschung übriggeblieben,
an der ein kleiner Gedenkstein an die letzte noch vorhandene Absprungstelle
Otto Lilienthals erinnert.
Erschwerend kommt hinzu, dass heute der gesamte Bereich bewaldet ist.
Wie Meßtischblätter von 1939 – 1942 zeigen, benannten die Kartographen die nächste östliche Erhebung der Krielower Berge, gewissermaßen als Ersatz, in „Spitzer Berg“ (58,5 Meter) um, was bei der Lokalisierung des Geschehens von 1891 nicht gerade hilfreich ist.
Moderne elektronische Abtastverfahren können die Erdoberfläche exakt dreidimensional erfassen und darstellen. Dabei kann sogar der Pflanzenbewuchs heraus gerechnet und die „kahle“ Oberflächenstruktur sichtbar gemacht werden.
Legt man die entsprechenden Meßtischblatt-Ausschnitte der drei Epochen auf diesen modernen Oberflächen-Scan, ergibt sich das folgende Bild.
Man sieht, wo damals der Spitze Berg (S) mit seinen 64,1 Metern Höhe lag und wie die ursprünglich kleine Grube (E), die Material für die Eisenbahnstrecke Berlin-Magdeburg lieferte, geformt war. Die Windmühle (W) des Müllers Schwach ist heute nicht mehr vorhanden.
Sie wurde 1935 abgerissen. Das Gehöft (G) des Müllers liegt an der Verbindungsstraße von Derwitz nach Krielow. Sie ist von Derwitz abschnittsweise bis zum Lilienthaldenkmal als Panoramaweg „Werderobst“ touristisch erschlossen. Die Gebäude des Müllers sind z.T. heute noch vorhanden und als Station Nr. 3 beschildert bzw. mit einem Foto von Carl Kassner bebildert.
Das 1991 errichtete Denkmal (D) erinnert an die ersten Flüge eines Menschen und steht auf der Krielower Seite an der Gemarkungsgrenze zu Derwitz, zwischen dem Lilienthal’schen Übungsgelände (grüne Grube) und dem ehemaligen Standort der Windmühle.
Die kesselförmige Ausbildung der ursprünglichen Sandgrube ermöglichte es Lilienthal, Flugversuche gegen den Wind bei fast allen Windrichtungen durchzuführen. Jedoch begrenzte die Höhendifferenz zwischen Abbruchkante und Sohle der Sandgrube die zu erreichenden Flugweiten auf die überlieferten maximal 25 – 30 Meter. Vom Sprung zum Flug benutzte Otto Lilienthal an der Krielower Sandgrube 1891 ausschließlich den Derwitz-Gleiter. Vorbild für das Lilienthal-Denkmal war der faltbare Normalsegel-Apparat, den Lilienthal überwiegend in den Rhinower Bergen nutzte.
Man kann also festhalten: Die ersten Flugversuche des Menschen fanden – wie die Fotodokumente von Dr. Carl Kassner belegen – an der Böschung der Krielower Sandgrube statt. Lilienthal benötigte die Abbruchkante dieser Grube um in die Luft zu kommen. Das natürliche Gefälle am Spitzberg in Krielow reichte bei den Gleitverhältnissen des „Flugzeuges“ nicht aus, um einen Flug durchzuführen. Es bedurfte damals, vergleichbar mit den Gleitschirmfliegern heute, einer Absprungkante, Rampe oder ähnlich starkem Gefälle.
Der Fotograf Kassner hat nicht nur unersetzliche Fotodokumente geschaffen, sondern auch seine Erinnerungen an diese historischen Flugversuche niedergeschrieben:
„So zog ich eines Sonntags im Frühjahr 1891 mit ihm hinaus. Wir fuhren mit der Potsdamer Bahn bis Groß Kreutz, wo uns ein Wagen erwartete und über Krielow zur Mühle auf dem Spitzen Berge nördlich von Derwitz brachte. In der Scheune des Müllers dort hatte Lilienthal seinen Flugapparat untergebracht, und am Hange des Spitzen Berges (9 km hinter Werder) machte er damals Flugversuche. Hier setzte ich mich auf den Sand und photographierte Lilienthal mehrmals, als er über mich hinwegflog, und auch von der Seite. Das sind die allerersten Aufnahmen eines fliegenden Menschen.“
Derwitz gehört seit 2003 zur Stadt Werder. Mit viel Engagement wurden am Panoramaweg „Werderobst“ fünf Stationen zur Ehrung von Otto Lilienthal ausgeschildert.
Tafel 1 : In Derwitz neben der Kirche am Lilienthalgedenkhaus. Die Tafeln sind z.T. mit Fotos von Carl Kassner versehen.
Tafel 2 : Das evangelische Pfarrhaus in Derwitz. Pfarrer Bournot war der Onkel von Anna Lilienthal.
Tafel 3 : Das Wohnhaus des Müllers Herrmann Schwach.
Tafel 4 : Bockwindmühle – über dem Pferdefuhrwerk sieht man einen Teil vom ehemaligen Spitzberg.
Tafel 5 : Foto Lilienthals im Flug von einer Abbruchkannte. Sie steht an einem Gedenkstein mit einer Metalltafel an der Grube, die erst in den 1930-er Jahren für den Autobahnbau entstand.
1891 konnte Otto Lilienthal nur die grün gekennzeichnete Grube nutzen. Die Grubenerweiterungen von Krielow nach Drewitz sind erst 8 bzw. über 30 Jahre später, nach seinem tragischen Absturz am Gollenberg in Rhinow, entstanden.
Das Video „Lilienthal Flug in Krielow Derwitz, Oktober 2019“ auf YouTube von Frank Kriebel unter https://www.youtu.be/0RZFB7aSW48, zeigt aus der Vogelperspektive, wie es ca. 130 Jahre nach den ersten Flügen Otto Lilienthals in dem Gebiet um den ehemaligen Spitzberg aussieht.